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Am 30. November 2023 begrüßte Prof. Uhle an der Juristenfakultät der Universität Leipzig Herrn Prof. Dr. Stephan Harbarth, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, zu einem Vortrag mit dem Thema „75 Jahre Grundgesetz – Zur Anatomie einer geglückten Verfassung“. Damit wurde die von ihm konzipierte und verantwortete Veranstaltungsreihe "75 Jahre Grundgesetz – Wegmarken und Herausforderungen der Verfassungsgeltung" eröffnet, die das Verfassungsjubiläum aus historischer, rechtlicher und politischer Sicht würdigt. Über 500 Zuhörer, neben Studierenden auch zahlreiche Professorinnen und Professoren der Fakultät, verfolgten den Vortrag und beteiligten sich an der anschließenden Diskussion.

Prof. Dr. Harbarth beleuchtete in seinem Vortrag die zentrale Bedeutung des Grundgesetzes für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Das schwindende Vertrauen in die Institutionen zeige, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wie wenig selbstverständlich die demokratische Ordnung heute sei. „Daher ist es in solchen Zeiten besonders wichtig, unser Grundgesetz, die elementare rechtliche Basis dieser Grundordnung, zu erklären, für das Grundgesetz zu werben und für das Grundgesetz einzutreten.“

„Eine freiheitliche Demokratie benötigt einen starken Rechtsstaat, um die Durchsetzung des gleichen Rechts für alle zu gewährleisten“, so der Jurist über die Grundprinzipien des Grundgesetzes. Auch wenn den Grundrechten und damit der individuellen Freiheit in der Ordnung des Grundgesetzes eine herausragende Bedeutung zukomme, seien persönliche Freiheitsräume nur durch die Bindung an Recht und Gesetz möglich. Die Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Gerichte sind dabei die zentralen Pfeiler der Rechtsstaatlichkeit. In diesem Zusammenhang äußerte Harbarth seine Sorge über die Entwicklung in einzelnen Mitgliedstaaten der europäischen Rechtsgemeinschaft, in denen die Unabhängigkeit der Gerichte massiv bedroht oder gar beseitigt wird.

Die Bedeutung eines der wichtigsten Strukturprinzipien des Grundgesetzes, den Föderalismus, erklärt Harbarth wie folgt: „Wenn die Macht zwischen der Bundes- und der Landesebene verteilt wird, dann ist – so die Idee – die Gefahr der Schaffung einer Diktatur, die sich den Gesamtstaat unterwirft, deutlich reduziert“. Und weiter: „Föderale Strukturen bieten dem Bürger mehr Möglichkeiten der Beteiligung und Mitwirkung als im Einheitsstaat.“ Dennoch gäbe es nach 74 Jahren der Geltung des Grundgesetzes auch Anlass, den Zustand des Föderalismus kritisch zu beleuchten. Denn auch wenn sich die föderale Struktur im Kern bewährt habe, sei die zunehmende Verflechtung von politischer Verantwortung in der Tendenz problematisch. „Für die Akzeptanz einer parlamentarischen und weitgehend repräsentativen Demokratie ist eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten notwendig.“

„Das Grundgesetz bietet heute einen stabilen Ordnungsrahmen, der mich bei allen Schwierigkeiten grundsätzlich zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt“, beschloss Harbarth seinen Vortrag. Es habe sich als zukunftsoffene Verfassung erwiesen und in der Vergangenheit sowohl die europäische Integration ermöglicht als auch die deutsche Einheit. „Wir wissen, welche Bedeutung eine gute Verfassung für die glückliche Entwicklung eine Staates hat. Wir wissen aber auch, dass die beste Verfassung keinen Erfolg haben kann, wenn sie keine Menschen antrifft, die sich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit engagieren.“ Harbarth mahnte daher, mehr denn je diskursbereit zu bleiben. „Es muss uns heute mit Sorge erfüllen, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Kompromiss in den drängenden Fragen unserer Zeit zu schwinden scheint. Wir sind auch heute kein gespaltenes Land, aber wir sind auseinandergerückt.“ Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger respektvoll auch mit Andersdenkenden ins Gespräch gingen, Gemeinsinn stifteten und sich für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einsetzten, bleibe die Demokratie auf lange Sicht lebendig.

So sei das bevorstehende Verfassungsjubiläum auch ein Appell, den Fokus in den politischen Auseinandersetzungen unserer Tage nicht auf das Trennende, sondern auf das Gemeinsame zu richten – ganz im Geist der Debatten im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz am 8. Mai 1949 als „eine zu Worten geronnene Kompromissfindung“ beschloss. Dann habe auch eine erfolgreiche Verfassung wie das Grundgesetz alle Chancen auf eine gute Zukunft.