Die Veranstaltungsreihe Recht und System: Juristische Perspektiven auf die DDR widmet sich der juristischen Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem der DDR sowie dessen anhaltenden Auswirkungen auf die heutige Rechtslandschaft. Im Fokus stehen dabei sowohl die Rolle des Rechts in der DDR als auch die Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf die juristische Praxis und rechtspolitischen Debatten in (Ost-)Deutschland. Mit Blick auf den 35. Jahrestag der Vereinigung soll die Reihe einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur aus juristischer Perspektive leisten. Den Auftakt der Reihe bildet am 10. April 2025 der Vortrag Der Realsozialismus und das Recht von Prof. Dr. Adrian Schmidt-Recla, Leiter der Forschungsstelle DDR-Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Was war der Auslöser, die Vortragsreihe „Recht und System: Juristische Perspektiven auf die DDR“ ins Leben zu rufen?
Paula Roschig: Auslöser war eine Diskussion im Rahmen des Feministischen Jurist:innentages letzten Jahres. Eigentlich sollte es im Rahmen eines Interviews um die feministischen ostdeutschen Perspektiven von Juristinnen gehen, am Ende schlug die Veranstaltung in einen sehr leidenschaftlichen Austausch verschiedenster Generationen um. Alle waren überwältigt davon, wie groß das Bedürfnis dafür war, eigene Erfahrungen zu teilen und zu diskutieren, eben weil es dafür bislang kaum Räume gab.
Johanna Mittrop: Solchen Räumen wollten wir gern die Tür öffnen. Schon lange haben wir den Wunsch, eine Auseinandersetzung mit dem SED-Unrechtsstaat und seinem Rechtssystem an unserer Fakultät stattfinden zu lassen. Als einzige Jurafakultät in Sachsen, zudem noch in Leipzig, einem zentralen Schauplatz der friedlichen Revolution, sehen wir uns in einer gewissen Verantwortung.
Welche Bedeutung hat DDR-Recht heute in der juristischen Ausbildung?
Mittrop: Zwar gehört die Befassung mit dem Unrecht der SED-Diktatur zum Pflichtbestandteil des Jurastudiums, praktisch ist eine systematische Auseinandersetzung jedoch nicht zu beobachten. Wird über die juristische Zeitgeschichte geredet, ist damit in der Regel die Rechtsgeschichte Westdeutschlands gemeint. In letzter Zeit ist allerdings das Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht gewachsen und einzelne Veranstaltungen finden bereits statt. Klar ist, dass die Fokussierung auf das Recht der BRD einen guten Grund hat: sie ist die Geschichte des heute noch geltenden Rechts. Gleichwohl schult die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht die kritische Kontextualisierungsfähigkeit und das Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Machtgegenstand Recht. Die Bedeutung dieser Fähigkeiten ist gestern wie heute kaum zu unterschätzen.
Wie könnte das Thema dauerhaft in der juristischen Ausbildung verankert werden?
Mittrop: Im Rechtsreferendariat gibt es bereits Fortbildungsangebote speziell zur politischen Strafjustiz in der DDR, im Studium dagegen besteht noch Verbesserungsbedarf. Uns ist bewusst, dass das juristische Studium bereits sehr überladen ist, aber es wäre durchaus möglich, sich in bestehenden Vorlesungen auch auf die DDR zu beziehen. Denn in der Forschung findet die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der SED-Diktatur durchaus statt. Sie muss nun in den Vorlesungen, insbesondere in den Grundlagenfächern, aufgegriffen werden und auch in die Lehrbücher einfließen. Im letzten Jahr hat beispielsweise der Reader „Unrecht mit Recht?“ wichtige Impulse zur Beschäftigung mit dem NS-Recht gesetzt. Eine solche Textsammlung zur Auseinandersetzung mit dem SED-Unrechtsregime steht dagegen noch aus.
Roschig: Darüber hinaus gibt es so viele verschiedene juristische Fragestellungen zur DDR, die in vertiefenden Lehrveranstaltungen, Seminaren oder Vorträgen aufgegriffen werden könnten. Bereichernd wäre auch die Verknüpfung mit aktuellen rechtsstaatlichen Diskursen zum Umgang mit autoritären Rechtssystemen oder der Funktion von Recht unter ideologischen Bedingungen.
Welche Schwerpunkte waren Ihnen für die Vortragsreihe besonders wichtig?
Mittrop: Wir wollten uns sowohl der grundsätzlichen Bedeutung von Recht in der DDR als auch materiell-rechtlichen Einzelfragen widmen, an denen sich die alltägliche Unrechtsherrschaft besonders illustrieren lassen. Dabei war es uns wichtig, auch von den Erfahrungen von Zeitzeug:innen zu profitieren. Wir haben ein abwechslungsreiches Programm mit Personen aus unterschiedlichen Bereichen zusammengestellt, zu dem neben Vorträgen, einer Podiumsdiskussion und einer Exkursion in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau auch noch ein Theaterbesuch kommen wird. Davon erhoffen wir uns, verschiedene Zielgruppen ansprechen zu können - neben Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden der Universität auch die breite Öffentlichkeit, besonders aber auch Jurist:innen, die das DDR-Rechtssystem wie auch den Umbruch durch die friedliche Revolution und den Einigungsvertrag als Teil der eigenen Biografie erlebt haben.
Sehen Sie Bezüge zur aktuellen Diskussion um strukturelle Ost-West-Unterschiede?
Roschig: Ich glaube, die Diskussionen können von dem Blick in die Vergangenheit profitieren. Meine Familie kommt aus Sachsen und hat teilweise sehr prägende Erfahrungen mit politischer Repression gemacht. Diskussionen über die Zeit in der DDR waren bei uns zuhause normal. Dass das gar nicht so normal ist, habe ich erst später gemerkt, unter anderem in meinem Studium und an der Unterrepräsentation ostdeutscher Lehrender an der Fakultät. Wenn wir gegenwärtige Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern verstehen wollen, kommen wir an einer Auseinandersetzung mit dem geteilten Deutschland nicht vorbei. Und das gilt auch für das Recht. Wie Recht konzipiert und praktiziert wurde, wirkte sich auf die Lebensrealität von Menschen aus, die immer noch Teil unserer Gesellschaft sind und diese mitprägen. Ich denke, man kann in Anbetracht von Statistiken zu Wahlergebnissen, Einkommen und Verteilung von Führungspositionen kaum leugnen, dass es immer noch Unterschiede gibt. Wenn Bundesgerichte nur zu zwei Prozent, die leitenden Positionen ostdeutscher Justiz nicht mal zur Hälfte und von den 28 Professuren unserer Fakultät nur zwei ostdeutsch besetzt sind, haben wir einen Mangel an Perspektiven im Recht. Dem zu begegnen ist auch Aufgabe der Wissenschaft und soll durch unsere Veranstaltungsreihe aufgegriffen werden.
Was wünschen Sie sich, was die Zuhörer:innen aus der Reihe mitnehmen?
Mittrop: Wir wünschen uns vor allem, dass die Relevanz der Auseinandersetzung mit Recht und Unrecht in der DDR erkannt wird. Wichtig ist, danach nicht nach Hause zu gehen und das Thema als abgeschlossen zu betrachten. Die DDR hat rechtswissenschaftlich viel Diskussionsstoff zu bieten, unsere Veranstaltungsreihe kann nur einen kleinen Ausschnitt bearbeiten. Wir hoffen, dass die Thematisierung an der Fakultät darüber hinausgehen wird.
Roschig: Außerdem wünschen wir uns, dass dieser Austausch nicht nur als Bearbeitung der Vergangenheit betrachtet wird. Recht und Unrecht wirken fort. Rehabilitierungs- und Entschädigungsverfahren laufen weiter. Die Biografien von Jurist:innen aus Ostdeutschland sind durch Sozialisierung und berufliche Tätigkeit in der DDR geprägt. Juristische Perspektiven auf die DDR dienen insofern nicht nur der Verständigung über die deutsche (Rechts-)Geschichte, sondern sind auch notwendiger Bestandteil der heutigen Rechtswissenschaft. Wir wünschen uns, dass auch das Teil der Diskussion in juristischen Räumen wird.
Vielen Dank und viel Erfolg für die Veranstaltungsreihe!